Kurzgeschichten

Junge Literatur Burgenland Edition Lex Liszt Volume 7 ISBN 978-3-99016-254-5

Anthologie „Junge Literatur Burgenland Band 7“, Edition Lex Liszt 12, ISBN 978-3-99016-254-5

In einem Arm ein Kind, im anderen die Säge

(Auszug)

  

„Er hat keine Schmerzen“, sagte der Arzt und das war mir am wichtigsten: keine Schmerzen. Er würde in der Nacht nicht mehr schreien, weil er im Stacheldrahtzaun hängenbleibt oder vom Schein der Taschenlampe im letzten Moment gestreift wird, bevor sie schießen. Das ist etwas, das ich übernommen habe. Ich träume oft, dass ich flüchte, wovor, weiß ich nicht genau, aber der Verfolger holt mich ein oder ich muss durch einen schmalen Spalt klettern und schaffe es in letzter Sekunde nicht, davonzukommen. Mein Vater war mit siebzehn aus Ungarn nach Österreich geflüchtet, „… meine beste Entscheidung, Zsuzsanna“, sagte er immer. Die meisten kamen über die Brücke von Andau, er durch den Schlamm eines unspektakulären Rübenfeldes bei Pamhagen – durch diese Landschaft, die mich sommers zum Weinen bringt ob ihrer Schönheit. Wenn ich dort hindurchfahre, trage ich das Gelb in meinen Armen, pflanze es in Reihen, schüttele es, damit es wogt.
Mit einem Pinsel male ich das Blau in meine Gedanken, selbst im Herbst, wenn die Stunden schwer aus den Hufen der Zeit fallen und das Licht hinter der Decke schläft, sehe ich die Farben, wenn Zweifel über die Felder hüpfen wie hinkende Krähen. Ich habe ein Pferd gestohlen, es heißt Fantasie, schon als Kind versteckte ich es in meiner Tasche, und es bringt mich überallhin, selbst wenn das Licht noch hinter der Decke schläft und ich mich auf das kalte Feld beuge und mein Ohr zu den Stunden halte und höre, wie es rauscht.

Seine Familie hatte meinem Vater nie verziehen, dass er gegangen war; weniger, weil er keine Enkelkinder aus dem Nachbardorf brachte, die zu Ostern nach roten Eiern hätten suchen können, sondern weil er die Familientradition einfach gebrochen hatte. Abschütteln konnte er sie nie.

 

Textauzug aus:

Junge Literatur Burgenland

Anna Bauer, Lisa Bolyos, Kerstin Istvanits, Bernadette Németh
Band 7
ISBN: 978-3-99016-254-5

Hg.: edition lex liszt 12, 2023

 

Schönmenschen oder Heute, vor hundert und in hundert Jahren

(Auszug)

 

Ich bin eigentlich gar nicht hier. Ich liege im dichten, raschelnden Schilf, mein Rücken im kühlen Schlamm, über mir das Rascheln von Kiebitzen, Fasanen, Rohrdommeln. Der Himmel so blau, dass es in den Augen schmerzt. Ich bin zehn Jahre alt. Ich verstehe die Vögel, ich kenne ihre Rufe. Im warmen Licht der aufgehenden Sonne legen sich Nebelstreifen über die Weingärten und erquicken die Reben mit Feuchtigkeit. Das satte Grün der Rebblätter hat bereits die Farbe gewechselt, bei den Weißweinsorten zu Gelb, Orange und Hellbraun, die des Blaufränkischen heben sich mit einem leuchtenden Rotton von den anderen ab und ziehen blutrote Streifen durch die Weinberge bei Hegykö. Ich bin mehrere Kilometer durch das Schilf geradelt und liege dort, wo es bereits feucht ist vom See. Eine schwarze Wolke von Staren fliegt über mich hinweg. Zu Tausenden lassen sie sich in den Weingärten nieder, die binnen Minuten kahlgefressen sind. Beim Versuch, sich auf die Trauben zu setzen, um bequem zu naschen, treten die Stare die reifen Beeren mit ihren Krallen herunter und bringen die Winzer um die Arbeit eines ganzen Jahres. Doch ich verstehe sie. Sie können Tierstimmen nachahmen, den Ruf eines Mäusebussards etwa, aber auch einen Kiebitz oder eine Wachtel, manchmal sogar die Laute der Hunde, die sie in den Weinbergen jagen, schreiende Babys und angeblich sogar Klaviersonaten. Ich warte immer darauf, dass sie die Schreckschusspistolen nachahmen, mit denen die Bauern sie zu vertreiben versuchen, sie, die sich nur instinktiv das Überleben sichern.

So wie ich eines der Mädchen aus dem Fernsehen nachahmen wollte, als das Ehepaar aus Oslo an der Gartentür läutete. Zumindest hatte ich es versucht. Schauspielerinnen lächelten meistens, nicht wahr? Mama hatte mich ihr etwas zerschlissenes schwarzes Kleid mit dem Spitzenkragen anziehen lassen, in dem ich älter wirkte. Die Osloer waren in einem großen schwarzen Auto vorgefahren, das mit seinen Reifen in unserer Dorfstraße hängenblieben war. Ich schämte mich für unseren Streckhof mit der runden Arkade vor der Tür, einem Kussbogen, wie mein Vater immer sagte, der dazu diente, dass die Hausfrau verstohlene Küsse ihrer Töchter vom Fenster des Ersten Zimmers aus beobachten konnte. Das Erste Zimmer wurde eigentlich nur für Hochzeiten und Aufbahrungen genutzt, dort hatte Mama für sie gedeckt, mit dem besten Tokajer Geschirr.

Die Frau, die aus dem Auto stieg, kam mir wie eine Schneekönigin vor, in ihrem weißen Pelzmantel, den sie in der engen Arkade schützend um sich zog, um ihn nicht an unserer Mauer zu beschmutzen. In diesem Teil von Ungarn haben wir zwar wenig Schnee, aber im Winter pfeift der Ostwind so scharf, dass die Weinbauern um ihre Ernte fürchten.

Eileen nippte nur am hochstieligen Glas mit dem Diópálinka.  Sie betrachtete mich mit ihren großen grünen Augen. She is very pretty, sagte sie, und Papa übersetzte es meiner Mutter.

Textauszug aus:

Junge Literatur Burgenland

Anna Bauer, Lisa Bolyos, Kerstin Istvanits, Bernadette Németh
Band 7
ISBN: 978-3-99016-254-5

Hg.: edition lex liszt 12, 2023

 

 

Der zweite Blick – Ein Sammlung von Kurzgeschichten

Perdita wird mit verlorenem Gedächtnis in Costa Rica aufgefunden. Das Einzige, woran sie sich erinnern kann, ist ihre Leidenschaft für das Schreiben von Geschichten. Diese Rahmenhandlung verbindet 17 Kurzgeschichten, die verschiedenste Zeiten und Orte umfassen und eines gemeinsam haben: Die Tatsache, dass es sich immer lohnt, einen zweiten Blick hinter bestehende Fassaden zu werfen. Perdita führt die Leser auf eine fantasievolle Reise durch Schauplätze in Mittel-, Ost- und Südeuropa, Amerika, Lateinamerika und Asien. Jede einzelne Geschichte, die sie erzählt, hilft ihr, Stück für Stück ihre eigene Identität wiederzufinden. Die farbenfrohen Erzählungen handeln von Liebe und Angst, Menschlichkeit und Hoffnung, Mut zur Einzigartigkeit und Sehnsucht. Sie sind ein Plädoyer für Individualität und erzählen von dem Bedürfnis, das allen Menschen innewohnt: Einen ganz eigenen Weg zu finden.

ISBN 978-3-941404-70-0

2. Platz Kurzgeschichtenwettbewerb der Zeitschrift Wienerin November 2001;
veröffentlicht auch im Kurzgeschichtenband  Der zweite Blick

Sommernachtstraum

Stephánie Hegedüs wurde in einer Vollmondnacht geboren und ihre Eltern erkannten zu spät, dass es ein Fehler gewesen war, bei ihrer Geburt das Fenster zu öffnen.
„Ich brauche frische Luft!“ stöhnte Anna Hegedüs zwischen den letzten beiden Presswehen, und sogleich riss die Hebamme das Schlafzimmerfenster sperrangelweit auf; genau in jenem Moment, da sich Stephánies Kopf den Weg in das Licht der Welt bahnte. So war das Licht der Welt für sie das Licht des Mondes; und das allererste, was das Mädchen aus verklebten Augen sah, war das riesige, gelbe Gesicht, dessen Schein den Raum in einen fahlen Schimmer tauchte.
Manche Freundschaften werden in einer Sekunde geschlossen und halten ein Leben lang.
Anfangs beschränkte sich Stephánies Begeisterung für den friedlichen Erdtrabanten, der Nacht für Nacht in ihr Bettchen schien, auf ein fröhliches Krähen, das der ganzen Familie den Schlaf raubte. Die ungarische Hebamme, deren Autorität niemand in Frage zu stellen wagte, befahl, das Kind in das entlegenste Zimmer zu sperren und so lange schreien zu lassen, bis ihm von selbst die Puste ausging. Für ihre Eltern war dies eine bequeme Lösung, die zur Gewohnheit wurde; allerdings nur bis zu Stephánies zweitem Geburtstag. Am Morgen danach ging ihre Mutter nachsehen, warum es in der Nacht so verdächtig still gewesen war, und fand das Bett leer und die Balkontür weit offen. Die Kleine hing mit all ihren Haarschleifen und Rüschen wie ein exotischer Schmetterling kopfüber im Hibiskusstrauch und schlummerte selig, während am grauen Himmel gerade der Vollmond verblasste.

„Mamika, was passiert eigentlich mit mir, wenn ich „schlafwandeln“ gehe?“ fragte Stephánie ein paar Jahre später ihr Kindermädchen, das sie mit einer Mischung aus Abscheu und Respekt ansah.
„In solchen Nächten geht deine Seele auf Reisen“, sagte sie. „Das ist gefährlich. Die Seele darf den Körper nur zum Sterben verlassen, nicht einfach so zum spazieren gehen“.
Sie empfahl Stephánies Eltern, in Vollmondnächten die Türen zu verriegeln und die Fenster zu schließen; sie stellten rund um das Haus Eimer mit kaltem Wasser auf und banden ihre Tochter sogar eine Zeitlang mit einer langen Schnur am Bettpfosten fest. Doch ihr Freund war stärker als die beeinflussbaren Menschen, die er belächelte; und seine Anziehungskraft, die seit Beginn der Zeiten die Ozeane bewegte, machte vor lächerlichen Barrikaden nicht halt.

Wenn Stephánie heute an ihre Kindheit in Zsolna dachte, war diese nur einen Wimpernschlag entfernt.
Sie sah sich barfuß im hohen Gras stehen, das ihr zuerst bis zu den Schultern und später bis zu den Hüften reichte; ein kleines, behütetes Mädchen mit Blumen im Haar. Sie lief mit ihren Cousins im Abendsonnenschein über die Wiesen; dann warfen sie sich auf den Boden und rollten wie junge Hunde den Hang hinunter, wo sie benommen liegenblieben. Sie hörte den Lärm der Zikaden und roch den sinnlichen Duft des frischgemähten Grases. All diese Erinnerungen waren in goldenes Licht getaucht, das später nie mehr wiederkehrte; es war das Licht der unendlichen Sommer der Kindheit, in denen die Zeit stehenbleibt.

Dagegen schienen die jüngsten Ereignisse immer mehr in die Ferne zu rücken. Ein breiiger Sumpf der Unwichtigkeit verschluckte Geschehnisse der vergangenen Woche ebenso wie einen gestrigen Besuch oder das aktuelle Datum. Gestalten und Gesichter verschwammen wie Wasserfarben auf nassem Papier. In den wenigen Momenten, in denen ein klarer Gedanke die Nebel ihrer Verwirrung wie ein Lichtstrahl durchdrang, fragte sie sich, was zum Teufel sie hier eigentlich machte. Dann streifte ihr trüber Blick ihre gichtverkrümmte Hand; in ihrer Vene steckte eine blutverkrustete Nadel, die mit Heftpflaster auf ihrer von Altersflecken übersäten Haut befestigt war. Beim Anblick ihrer Haut beschlich sie jedes Mal ein beklemmendes Gefühl; als hätte man ohne ihre Zustimmung ihre rosige Pfirsichhaut gegen zerknittertes Pergament eingetauscht. Sie, die ihr Leben lang stolz darauf gewesen war, ihre Schönheit ohne eine einzige Creme bewahrt zu haben, steckte nun in einer runzeligen Hülle, die über ihren viel zu großen Händen und Füßen schmerzhaft spannte.

Hätte sie sich in ihrem Spiegelbild noch selbst erkannt, hätte sie gesehen, dass ihr glattes Gesicht mit den blauen Augen immer mehr einem Kind ähnelte; so als hätte ihr Körper das Bestreben, am Ende seiner Tage wieder zu seinem Ursprung zurückzukehren.
Obwohl sie sich mit ihrem Schicksal abgefunden hatte, nie wieder jung zu werden, fraß dieser Gedanke dennoch in ihrem tiefsten Inneren wie eine gierige Raupe Löcher in ihr Herz. Dann erwachte sie mit Tränen in den Augen und verbot sich zu wissen, warum; nur hin und wieder, wenn sich die Raupe bis zu ihrem Kopf durchgefressen hatte, seufzte sie, dass sie nichts dagegen hätte, sofort zu sterben, wenn sie davor doch nur ein einziges Mal wieder jung sein könnte.

In jener milden Augustnacht erwachte sie mit dem Klang ihres Namens im Ohr.
Durch die halbblinden Fensterscheiben fiel weißes Mondlicht auf ihr Gesicht. Es sah aus wie die Strahlen der Morgensonne, wie sie in Zsolna durch die Terrassentür gefallen waren.
Mühelos setzte sie sich auf und schwang ihre mageren Beine über die Bettkante.
Zum Frühstücken hatte sie keine Zeit mehr, denn ihr Liebster wartete auf der anderen Seite des Flusses auf sie, bei der alten Ulme.
Lautlos tappte sie zum Fenster und hielt kurz inne. Die Böschung vor ihrem Haus war sehr steil; als sie noch klein gewesen war, hatten ihre Cousins ihr mittels Räuberleiter beim Klettern geholfen. Doch jetzt stützte sie ihre knochigen Arme auf das Fensterbrett und zog sich mit aller Kraft hoch; dann richtete sie sich im Fensterrahmen auf und blickte in die Tiefe hinunter.
Mit all ihren Sinnen spürte sie den meterhohen Abgrund, der drei Stockwerke tief vor ihr gähnte. Doch statt Angst erfasste sie ein Gefühl unbändiger Freiheit.
Dort unten war der Fluss noch wild und reißend. Ein paar hundert Meter flussabwärts würde er sich in ein friedliches Rinnsal verwandeln, und dort wartete ihr Zoltán auf sie.

Gábor wusste, dass er heute Nacht wieder nicht würde schlafen können.
Seitdem er hier war, versuchte er, den Schlaf mit Gewalt zu erzwingen. Doch ständig drehten sich bunte Bilder wie ein Kaleidoskop in seinem Kopf und dann warf  er sich zwischen den verschwitzten Laken unruhig hin und her. Meistens setzte er sich dann ein wenig im Bett auf, soweit er konnte, und verfluchte die unerträglich schwülen Sommernächte und sein gesamtes armseliges Leben. Der schwere Gipsverband fesselte ihn ans Bett und er fühlte sich hilflos wie ein Käfer, der auf den Rücken gefallen war.
Es war eine himmelsschreiende Ungerechtigkeit, dass sein Unfall ihn nur ins Budapester Krankenhaus und nicht wie erhofft ins Jenseits befördert hatte. Wäre er nämlich dabei draufgegangen, hätte er sich noch unter der Erde am schlechten Gewissen seiner Freundin weiden können.
Sie war an der ganzen Misere schuld.
Er hatte sie beide in flagranti erwischt, Csilla und ihren Liebhaber, und noch dazu war der Kerl dunkler, kräftiger, männlicher als er. Wie sie da lagen, in trauter Zweisamkeit in dem zerwühlten Bett, war in ihm etwas zerrissen. Am liebsten hätte er ein Messer genommen, es ihm in den Rücken gestoßen und die beiden auf ihrem Liebeslager übereinander aufgespießt wie ein – wie hieß nochmal dieses neue amerikanische Lokal? – Subway-Sandwich. Bei diesem Gedanken verzogen sich seine Mundwinkel zu einem hämischen Grinsen. Doch eigentlich war Gábor ein sanftmütiger Kerl, der keiner Fliege etwas zuleide tun konnte und der imstande war, bittere Tränen des Mitleids zu weinen, wenn er von irgendeinem Mord auch nur in der Zeitung las. Daher hatte er beschlossen, statt seiner Freundin und ihres Geliebten sich selbst umzubringen.
Wie ein tragischer Held in all diesen Fernsehserien wollte er enden – doch beim Gedanken an seine Verbände und an sein demoliertes Motorrad musste er sich eingestehen, dass dieser Plan kräftig danebengegangen war.
Aus diesem Grund hatte Gábor begonnen, die Schmerzmittel, die ihm täglich verabreicht wurden, in einem Jausensäckchen zu sammeln, das er vorsorglich unter seiner Matratze versteckte.
Es war auch sehr leicht, mit treuherzigem Blick von bestimmten Schwestern Schlaftabletten zu erbetteln. Einen guten Kumpel hatte er außerdem überredet, ihm eine Flasche Rotwein mitzubringen, die nun im Nachtkästchen, eingewickelt in seine Schmutzwäsche, ihrer Verwendung harrte. Gábor hatte nicht vor, noch sehr lange damit zu warten. Heute Nacht war Vollmond; die perfekte Kulisse, um seinem jungen Leben ein würdiges Ende zu bereiten.

Schritt für Schritt, ohne zu zögern, tastete sich Stephánie am Sims der Hausfassade entlang. Sie wusste, dass die Böschung hier noch steil war und sie einige Felsen überklettern musste; endlich spürten ihre Füße ein Hindernis. Sie hatte den Balkon vor dem Zimmer des Oberarztes erreicht. Froh über die Erleichterung stieg sie vom Sims auf den Boden des Balkons und dann aufs Geländer. Über diese schmale Brücke wollte sie auf die andere Seite des Flusses gelangen. Mit der Sicherheit einer Seiltänzerin setzte sie Fuß vor Fuß; die Arme leicht vom Körper abgespreizt; alle Sinne geschärft. Als sie am Ende des Balkongeländers auf das angrenzende Dach stieg, strauchelte sie kurz; doch dann fanden ihre Füße wieder Halt und die kühle Glätte der Dachziegel schmiegte sich wie glattgeschliffene Flusskiesel an ihre nackten Fußsohlen.Nun ging es wieder bergab bis sie das flache Dach des angrenzenden Versicherungsgebäudes erreicht hatte. Jetzt war sie endlich bei ihrem Treffpunkt, der großen alten Ulme. Zoltán war noch nicht hier.

Gábor wurde wach, als ein Windstoß den Vorhang seines Fensters wie ein Segel blähte. Sein einziges Privileg hier im Spital war, dass sein Bett direkt neben dem Fenster stand; allerdings bot der Ausblick normalerweise nicht viel Abwechslung. Das Spital war ein dunkelroter Backsteinbau, der hufeisenförmig angelegt war. Direkt gegenüber von ihm befanden sich die Fenster der geriatrischen Frauenabteilung. In diesen Fenstern tauchte niemals ein Gesicht auf; dort lagen ausschließlich jene Patientinnen, die – wie ihm die schroffe Krankenschwester erklärt hatte – ohnehin bald „nicht mehr da“ sein würden. Einmal hatte man seine Liege dort vorbeigeschoben, stehen gelassen und ihn eine halbe Stunde lang vor einem der Krankenzimmer vergessen. Durch die offen stehende Tür hatte er einen Blick hineinwerfen können, doch er war zurückgeprallt vor dem Hauch des Elends und der Traurigkeit.

Im Bett direkt neben der Tür lag ein uraltes Mütterchen, deren falsch eingelegte Zahnprothese ihr den Anblick eines Vampirs verlieh und deren wasserblaue Augen ins Leere starrten; jedes für sich in eine andere Richtung. Mit dem Blick des Schockierten für das Unwesentliche hatte sich Gábor ihren Namen eingeprägt, der auf einem Stück Pappkarton an ihrem Tropfständer hing und unbeugsam fröhlich klang: Stephánie Hegedüs. Ohne zu wissen warum, musste er an diesen ausgemergelten Frauenkörper denken, als ein Windstoß den Vorhang bis zur Decke hochwarf und den Blick nach draußen freigab. Verwirrt stützte er sich auf die Ellbogen. Träumte er, oder stand dort tatsächlich eine dünne Gestalt im weißen Nachthemd auf einem der Fensterbretter der Geriatrie? Erschöpft warf er sich auf sein Kissen zurück und war erleichtert, dass er träumte, denn dies bedeutete, dass er endlich schlief. Doch dann konnte er nicht widerstehen, wieder durch das Fenster zu blicken, und sah, wie die Gestalt behände in horizontaler Richtung die Hausfassade entlangzuklettern begann.

Gábor saß aufrecht im Bett und starrte wie hypnotisiert auf die Gestalt, die jetzt auf dem Dach des Versicherungsgebäudes stand. In ihrem flatternden weißen Gewand sah sie aus wie ein Engel, der zufällig vom Himmel gefallen war und ihm mit beiden Armen zuwinkte. Wie ferngesteuert schwang er die Beine aus dem Bett, war mit einem Schritt beim Fenster und zog sich am Fensterrahmen hoch. Dann zwängte er seinen Körper durch die enge Öffnung und tastete mit den Füßen nach einem Halt.
„Warte!“ rief er. „Warte! Ich komme!“
„Zoltán!“ lachte sie. „Zoltán, mein Schatz, komm endlich! Ich warte schon so lange!“
„Ich heiße nicht Zoltán!“ schrie er zurück und seine Fingerknöchel, die die Regenrinne umklammerten, traten weiß hervor beim verzweifelten Versuch, nicht in den Abgrund hinunterzuschauen, während er Schritt für Schritt der Frau hinterher kletterte. Er wollte ihr zurufen, dass er Gábor hieße, dass es sich offensichtlich um eine Verwechslung handle, doch er hatte fast keine Kraft mehr in seinen Armen. Beim nächsten Wort versagte seine Stimme und aus den Augenwinkeln sah er nur noch das Weiß ihres Nachthemdes wie eine flatternde Fahne. Als er das Dach des Versicherungsgebäudes erreicht hatte, gaben seine Beine unter ihm nach.

Sie streckte ihm ihre Hand entgegen, zog ihn zu sich hoch und lachte übers ganze Gesicht. Er hatte keine Ahnung, woher er diese Frau kannte. Sie sah so jung aus. Eine flüchtige Erinnerung streifte ihn wie ein Schatten, um ihm dann wieder aus den Händen zu gleiten. Er wusste nur, dass er sie liebte. Da war nichts Fremdes. Es war einer jener magischen Momente, in denen zwei Menschen die Anziehungskraft spüren, die die Planeten zusammenhält. Ihre wasserblauen Augen, die ihn unverwandt anblickten, waren ihm so vertraut, dass ihm in diesem Augenblick nichts selbstverständlicher hätte erscheinen können, als sich mit ihr mitten in dieser Sommernacht auf dem Dach eines Budapester Versicherungsgebäudes zu treffen.

Zärtlich nahm er ihren Kopf zwischen seine Hände und sie schmiegte sich vertrauensvoll an ihn. Er spürte die Spitzen ihrer weiblichen Rundungen, die sich ihm durch das dünne Nachthemd entgegenstreckten. Der glänzende Spiegel seiner  dunklen Augen warf ihr das Spiegelbild einer glücklichen  Frau zurück. Ihre Lippen fanden sich blind; er öffnete sie mit einem warmen Kuss, und sie schloss die Augen, als sie ihn erwiderte. Ihre Zungen spielten miteinander wie zwei Fische und sie fühlte sich in seinen Armen geborgen wie in einer geschlossenen Blüte unter den dichten, rauschenden Zweigen der Ulme. Sie vergaß die Kühle der Nacht und das leise Murmeln des Flusses im Hintergrund und hatte das Gefühl zu tanzen, zu fliegen; als wären sie und der warme Körper, der sie an sich presste, ein einziges Wesen; ein träger Falter, der sich im lauen Sommerwind hin und her wiegt.

Als er die Augen wieder öffnete, erschrak er.
Es schien, als hätte das Mondlicht ihre Züge weicher gezeichnet, kindlicher; sie sah plötzlich aus, als sei sie nur fünfzehn oder vierzehn Jahre alt.
Verstört wich er zurück. Erst jetzt fiel ihm auf, dass er sie um mehr als zwei Köpfe überragte. Sie musste vorhin auf Zehenspitzen gestanden sein, vielleicht sogar auf seinen Schuhen.
„Wie…wieso siehst du plötzlich so anders aus?“ fragte er und eine dunkle Vorahnung kroch seinen Nacken hinauf. Sie sah aus wie zwölf.
„Was ist los?“ stammelte er. „Was machst du da? Hör auf damit!“
Sie nestelte an ihrer Halskette, öffnete mit einem leisen Klicken den Verschluss und reichte sie ihm. Dann machte sie zwei Schritte zurück.
„Was soll ich damit?“ fragte er verwirrt. „Was geht hier vor?“
Sie ging noch einen Schritt zurück. „Du kannst sie behalten“, sagte sie.  „Ich kann jetzt nichts mehr mitnehmen.“
„Wohin denn mitnehmen? Wohin gehst du? Bleib hier! Du kannst doch jetzt nicht einfach fortgehen…“
Sie schüttelte den Kopf. „Ich gehe dorthin zurück, von wo ich gekommen bin“, sagte sie.
Ein verzweifeltes Schluchzen brach aus seiner Kehle. Tränen stiegen in seine Augen. Er warf sich nach vorne und umfasste ihre Beine.
„Ich gehe mit dir“, rief er. „Du hast ja kein Geld bei dir, gar nichts…“
Sie lächelte verschwommen und es war, als würde sie ihm durchs Haar streichen. „Dort, wo ich hingehe, brauche ich kein Geld. Geld ist nützlich, aber im entscheidenden Moment ist es wertlos. Das Einzige, was für immer seinen Wert behält, ist die Erinnerung an dich in den Herzen anderer Menschen, die dich lieben. Pass auf dein Leben auf. Du bist noch so jung. Du hast nur dieses eine und es ist früher aus, als du jetzt vielleicht denkst…“
Tränenüberströmt blickte er zu ihr auf und sah dunkle Schatten auf ihrer weißen Haut, als würde ihr Skelett durch sie hindurch schimmern. Verzweifelt griff er nach ihr, warf sich wieder auf den Boden, umklammerte ihre Füße und packte mit letzter Kraft nach ihrem Körper, der sich aufzulösen und mit dem Universum zu verschmelzen begann.
„Geh nicht fort!“ schluchzte er. „Nimm mich mit!“
Schon waren nur mehr ihre Umrisse erkennbar gleich einem flüchtigen Aquarell; dann verblassten auch sie und er griff ins Leere.
Mit einer ohnmächtigen Wut brach er zusammen, hob seine Hand, in der er immer noch ihre Kette hielt, holte aus und schleuderte sie mitten in den schwarzen Nachthimmel. In hohem Bogen flog sie durch die Luft, bevor sie baumelnd, mit einem leisen Klirren, an der Regenrinne des gegenüberliegendes Hauses hängenblieb.

Es war das Klirren des Tabletts, das Gábor weckte.
Die Krankenschwester hatte es energisch auf sein Nachtkästchen geknallt. Er schreckte hoch, sah seine in die Luft gestreckte Hand, mit der er soeben noch die Kette geschleudert hatte und den zweiten Arm, den er noch nach der Verschwindenden ausstreckte. Sein Herz galoppierte wie eine Büffelherde. Er wusste weder wo er war, noch ob er wachte oder träumte und beim Anblick der Frauengestalt neben seinem Bett schrak er zusammen wie ein geprügelter Hund.
„Was ist los?“ fragte die Schwester besorgt. „Geht es dir gut? Hast du schlecht geschlafen?“
„Ich…ich weiß nicht…“ Verstohlen wischte sich Gábor mit seinem Ärmel  die Schweißperlen vom Gesicht. Er tastete nach seinem Wasserglas und griff ins Nasse. Seine Wasserflasche war umgefallen; das Wasser hatte sich auf sein Bett und den Boden rundherum ergossen, seine Decke lag zerknüllt daneben.
Die Krankenschwester begann die Scherben einzusammeln. „Ein Alptraum? Oder ein Sommernachtstraum?“ fragte sie mit einem spöttischen Blick auf das Durcheinander.
Er ärgerte sich, dass er rot wurde.
„Das ist der Vollmond“, sagte sie ernst. „Da schlafen viele Patienten schlecht und…“- sie senkte die Stimme – „…ich habe den Eindruck, dass in Vollmondnächten auch mehr Leute sterben. Als würde der Mond die Seelen zu sich holen…“  Energisch wischte sie den Boden auf. „Es passieren immer wieder Dinge, die sich niemand erklären kann. Schon gar nicht die Ärzte. Heute Nacht ist zum Beispiel auf der Geriatrie ein altes Mütterchen gestorben, diese Frau Hegedüs…“
Zoltán schluckte.
„…die hatte immer so eine hübsche Kette bei sich. Bis zu ihrem Tod wollte sie die tragen, das war ein Geschenk von einem Jugendfreund, er hatte Zoltán geheißen, das wusste sie noch, obwohl sie ihre eigenen Kinder nicht mehr erkannte. Heute Morgen…“ – sie sah Gábor eindringlich an – „…heute Morgen hat man diese Kette in der Regenrinne im fünften Stock des Nachbarhauses gefunden. Was sagst du dazu?“
Gábor wurde schwindlig.
Er überlegte, ob er ihr erzählen solle, dass seine Seele heute Nacht auf einem Spaziergang vielleicht der Seele einer Sterbenden begegnet war, doch er dachte, dass sie ihn dann auf die Psychiatrie überweisen würden, und er hatte nicht mehr vor, allzu viel Zeit in diesem Krankenhaus zu verbringen.
„Pass auf dein Leben auf“, hatte Stephánie gesagt. „Du hast nur dieses eine, und es ist früher aus als du jetzt vielleicht denkst…“
Einem plötzlichen Entschluss nach griff er unter seine Matratze, zog das Säckchen mit den gesammelten Tabletten heraus und hielt es der Krankenschwester hin, die ihn mit großen Augen anstarrte.
„Hier, Schwester“, sagte er. „Nehmen Sie das mit und werfen Sie es weg. Ich habe das erst gestern in meinem Bett gefunden und bin noch nicht dazugekommen. Habe keine Ahnung, wie es hierhergekommen ist. Muss wohl ein Pfleger oder sonst jemand hier versteckt haben. Bei Vollmond passieren eben manchmal Dinge, die sich niemand erklären kann.“