Junge Literatur

Burgenland
Junge Literatur Burgenland Edition Lex Liszt Volume 7 ISBN 978-3-99016-254-5

Anthologie „Junge Literatur Burgenland Band 7“, Edition Lex Liszt 12, ISBN 978-3-99016-254-5

In einem Arm ein Kind, im anderen die Säge

In einem Arm halte ich mein Kind, im anderen eine Säge. In Richtung Ungarn geht die Sonne unter. Die schrägen Strahlen fallend gleißend aufs Wasser, es ist, als würde man im Licht ertrinken.

Wo Sand unter den Zehen ist, bin ich in den See gegangen, eine Stelle, die für die Städter künstlich geschaffen wurde. Einst war hier der Eisstoß, der am Ende der Würmzeit den Seedamm formte, jetzt weiden hier Esel mit blauen Augen. Man geht nicht lange im Sand, bald wechselt der Untergrund und der kalte Morast beginnt. Da bin ich, ich und mein Kind. Ein Schandfleck auf dem blütenweißen Kalk der Familientradition – mit seinen eingebetteten Fossilien, an denen sich in Jahrmillionen nichts geändert hat. Sie hatten dieselbe Form, als sie noch in der Tethys schwammen, dem Urmeer, das hier früher das Land bedeckte. Ich habe es gewagt, mir ein Stück herauszunehmen, um etwas Neues zu schaffen, mit sanftem Meißel bin ich vorgegangen. Ich habe es mir gewünscht. Es löste sich sachte, über den grünen Vorhang kam mein Kind zu mir auf meine Brust. Ich liebte es vom allerersten Atemzug an. Doch ich hatte uns der Umgebung entrissen, die Tradition gebrochen, an der Stelle war eine Wunde entstanden, die ich nicht bedacht hatte, die staubte, schwärte, irgendwann aufbrach und Zorn eiterte.

Deshalb bin ich hier, trage in der einen Hand mein Kind und in der anderen eine Säge.

Als ich den Schädel meines Vaters zum letzten Mal sah, hörte ich auf, Atheistin zu sein. Er war zersprungen in ungefähr zehn bis fünfzehn radiäre Splitter, die sich von seinem linken Ohr über die Schläfe bis zur Stirn zogen, wie bei einem zersplitterten Ei.

Ich war nie gut darin, mir Gesichter zu merken. In meinem Kopf verschwimmen sie zu fleischfarbener Masse, es sei denn, sie haben irgendetwas Markantes an sich. Deswegen mag ich Makel. Mein Mann Mike sagt, dass das vielleicht so sei, weil ich in den ersten sechs Wochen meines Lebens kaum Gesichter sah. Damals durften die Eltern noch nicht in die Brutkästen greifen. Womöglich versuchte ich deshalb Wörter zu finden, möglichst früh, möglichst viele und für alle Gefühle. Bisweilen erkenne ich Gedanken in Worten, die der Sprechende auslässt. Als der Arzt uns angerufen hatte, dass die Polizei meinen Vater gefunden habe, wusste ich augenblicklich, dass er tot war. Ich hoffte nur, dass er nicht ganz tot war, ich hatte die Sätze aus dem Lehrbuch nicht mehr parat. Sanfter Nebel des Vergessens hüllte mich ein wie Schneefall, als wir mit dem Taxi ins Krankenhaus fuhren.

Der erste Laut ist immer ein Schrei des Verneinens. Die Kollegen wissen das und fangen einen vorsorglich auf, führen die Angehörigen wie Schlafwandler zu den Toten. Ich sah den Schädel und wusste nichts mehr aus meinen Büchern. Mein Bruder, der eine andere Konfession hat, fing an, laut zu beten, „… und muss ich auch wandern in finsterer Schlucht, ich fürchte kein Unheil, denn du bist bei mir.“ Der Arzt machte den Vorhang zu und dimmte das Licht. Falls er uns für seltsam hielt, war ich froh, dass er es nicht sagte, vermutlich war er noch ganz anderes gewohnt. Ich bat die anderen Toten hinter dem Vorhang still um Verzeihung, es hätte ja sein können, dass Atheisten darunter waren, die das Beten störte.

„Er hat keine Schmerzen“, sagte der Arzt und das war mir am wichtigsten: keine Schmerzen. Er würde in der Nacht nicht mehr schreien, weil er im Stacheldrahtzaun hängenbleibt oder vom Schein der Taschenlampe im letzten Moment gestreift wird, bevor sie schießen. Das ist etwas, das ich übernommen habe. Ich träume oft, dass ich flüchte, wovor, weiß ich nicht genau, aber der Verfolger holt mich ein oder ich muss durch einen schmalen Spalt klettern und schaffe es in letzter Sekunde nicht, davonzukommen. Mein Vater war mit siebzehn aus Ungarn nach Österreich geflüchtet, „… meine beste Entscheidung, Zsuzsanna“, sagte er immer. Die meisten kamen über die Brücke von Andau, er durch den Schlamm eines unspektakulären Rübenfeldes bei Pamhagen – durch diese Landschaft, die mich sommers zum Weinen bringt ob ihrer Schönheit. Wenn ich dort hindurchfahre, trage ich das Gelb in meinen Armen, pflanze es in Reihen, schüttele es, damit es wogt.

Mit einem Pinsel male ich das Blau in meine Gedanken, selbst im Herbst, wenn die Stunden schwer aus den Hufen der Zeit fallen und das Licht hinter der Decke schläft, sehe ich die Farben, wenn Zweifel über die Felder hüpfen wie hinkende Krähen. Ich habe ein Pferd gestohlen, es heißt Fantasie, schon als Kind versteckte ich es in meiner Tasche, und es bringt mich überallhin, selbst wenn das Licht noch hinter der Decke schläft und ich mich auf das kalte Feld beuge und mein Ohr zu den Stunden halte und höre, wie es rauscht.

Seine Familie hatte meinem Vater nie verziehen, dass er gegangen war; weniger, weil er keine Enkelkinder aus dem Nachbardorf brachte, die zu Ostern nach roten Eiern hätten suchen können, sondern weil er die Familientradition einfach gebrochen hatte. Abschütteln konnte er sie nie. Ein Kind hätte den Lehrberuf ergreifen, eines den Bauernhof mit dem Lehmboden übernehmen und ein anderes Priester werden sollen. In dieser kompromisslosesten aller Altersstufen verschlug es meinen Vater als Flüchtling in ein Bergdorf. Er schrieb sich ins Priesterseminar ein, wollte diesen Beruf ausüben, den sich seine Eltern, den Sowjets zum Trotz, für ihn wünschten. Doch gleich in der Nähe des Vatikans, denn nach dem Seewinkel zog es ihn nur noch in die Wärme.

Die Regierung, die ihn aufspürte, trotz der Flucht, in einem ganz anderen Land, hatte nichts dagegen. Einen „Békepap“ wollten sie aus ihm machen, einen „Friedenspriester“, der den Frieden mit seinen Verfolgern wahrte und im „goldenen“ Westen für die Kommunisten spionierte. Er lehnte ab; doch ein kleiner Autounfall würde ihn schon zur Vernunft bringen, sagte der fremde Mann, der monatelang auf der gleichen Piazza, in den gleichen Cafés gesessen war wie mein Vater, immer am selben Tag, immer im selben grauen Mantel. Manchmal ist das Leben selbst ein Unfall.

Mein Vater beging den nächsten Fehler: Er verliebte sich in meine Mutter. Die Erzdiözese bot ihm an, uns anonym aufzuziehen. Er lehnte ab und gab seinen Beruf auf, Flüche sollten ihn treffen für diesen Bruch der Tradition, die auch bald eintrafen. Das erste Kind starb elendiglich bei der Geburt und andere verheiratete Priester mit robusteren Frauen tuschelten, dies sei vielleicht doch die Strafe Gottes gewesen. Und als im Keller der Geheimpolizei in der Andrássy-utca in Budapest keine Dissidenten mehr an den Armen aufgehängt wurden und sich das Regime zu einem gemächlichen Gulaschkommunismus gewandelt hatte, besuchte er mit uns zwei übrigen Kindern den Bauernhof mit dem Lehmboden.

Wir fuhren im April hin, als die Landschaft von einem zarten, noch scheckigen Grünton bedeckt war wie ein unregelmäßig gebatiktes Kleid. In der Ortschaft hinter der Grenze hingen die Stromleitungen tief von löchrigen Betonstangen, als würden sie den Schwalben helfen, Platz zu nehmen. In den Dörfern waren die Frauen alt, trugen Schnürstiefel und Kittelschürzen und blickten in schwarzen Kopftüchern aus den Fenstern.

Die Häuser sahen aus wie aus einem Wimmelbuch, jedes in einer anderen Farbe, ein winziges Postamt, ein Greißler hinter dicken Plastikvorhängen, ein Bäcker mit den Säcken voll Milch im Kühlschrank, die beim Herausnehmen trieften. Kaum war der Ort zu Ende, übernahm die Wildnis; noch kahle Bäume streckten ihre Zweige in den zögerlich blauen Himmel, das Schilf, über dem einzelne Reiher kreisten, war braun. Nichts hätte den Eisernen Vorhang besser stützen können als dieses undurchdringliche Schilf, das den See komplett verdeckte, fand meine Mutter. Überhaupt wäre niemandem eingefallen, darin zu schwimmen; wo heute die Segel der Boote leise im Wind knattern, standen Wachttürme mitten im Wasser und mein Vater erzählte, damals seien dort Minen gelegen. Ein traditionell geteilter See; den Norden begannen die Wiener zu erobern, der Süden war menschenleer. Keiner in der Familie meines Vaters konnte schwimmen.

„Gleich, gleich sind wir da“, sagte er hinter seinem Lenkrad und warf die Zigarettenkippe aus dem Fenster, er war immer angespannt beim Fahren, auch später, als er uns in die Toskana fuhr, nach Umbrien und Bibione, wo er drei Wochen lang jeden Tag mit mir zum Eisgeschäft spazierte, aber nie ins Wasser ging, weil ihm dort schwindlig wurde.

Es gibt Menschen, die einen anlächeln, aber irgendetwas ist falsch, man kommt nicht gleich drauf, es ist wie ein verstecktes Puzzleteil, aber ich höre, ob Worte warm sind oder kalt. Am Bauernhof war mir kalt, obwohl meine Großmutter Tee aus einer geblümten Dose kochte. „Sie mag uns nicht“, erklärte mir meine Mutter später. „Sie ist böse auf uns, weil Papa die Tradition aufgegeben hat und nicht Priester geworden ist.“ Also wäre es besser, wenn wir nicht existiert hätten, folgerte ich und blies auf einen welken Löwenzahn, dessen Samen sich auf dem Acker hinter dem Hühnerhof verflogen. Doch wenn es keine Kinder gab, dann gab es auch keine Menschen, und dann war dieser Gott doch für niemanden wichtig, wie konnte die Tradition wichtiger sein als die Kinder. Wir besuchten diese Großeltern dann nie wieder.

„… und muss ich auch wandern in finsterer Schlucht, ich fürchte kein Unheil, denn du bist bei mir“, betete mein Bruder, wie Wörter von einer Spule, mir war vorher nicht bewusst geworden, wie es ablenkt, vielleicht beruht Beten für manche darauf, dass es ablenkt und somit beruhigt, das Gehirn hat etwas zu tun und man starrt nicht nur auf den Toten in der Mitte, den man nicht fassen kann, denn die Toten fasst man schon im Seziersaal kaum, in der Familie gar nicht.

Zum Glück hatte ich da schon Mike an meiner Seite. Er sah uns beten und fand es normal, obwohl er wieder eine andere Konfession hatte, nicht die meines Bruders und nicht meine, doch als ob man das könne: anders beten, als ob es nicht egal sei, ob der irdische Aufruf bei dem Gott ankommt mit den Engeln rundherum oder dem ohne oder bei Elohim oder Buddha.

Mein erster Freund im Studium war Perser, ich hatte mich in ihn verliebt wegen seiner milchkaffeefarbenen Haut, und ich hatte eine Freundin, die war bei den Baptisten.

Ich ging ein paarmal mit ihr zu den Gottesdiensten im schmucklosen Gemeindebau, weil mir die Musik dort gefiel, afroamerikanisch mit viel Pep, ließ mich sogar taufen in einem aufblasbaren Planschbecken im Favoritener Gemeindebau. Nur den Freund, diesen Rusbeh, den musst du aufgeben, sagte der schmallippige Pastor zu mir, kurz bevor ich ins Planschbecken tauchte, den habe mir Satan geschickt, damit er mir meine Unverwechselbarkeit stehle. Es klang so dämlich, dass ich lachen musste – ich hatte genügend Leichen seziert, um zu wissen, wie verwechselbar Hymen aussehen, außerdem war ich über zwanzig. Nachdem ich meine Haare trockengeföhnt hatte, steckte ich das nasse T-Shirt in die Kochwäsche und betrat den Gemeindebau nie wieder.

Um ehrlich zu sein, habe ich Gott so gut wie nie in einer Kirche gefunden. Ich finde ihn im Gelb und Blau der Landschaft, im Wind, wenn mein Pferd mich trägt, in einem Sonnenaufgang, im Orgasmus, im Spiegel des glatten Sees am Abend. Sehr nahe war er, als man mir mein gesundes Kind über den Kaiserschnittvorhang hob – und ich an meinen toten Bruder dachte, dem die Blätter einer metallenen Geburtszange den Schädel zerquetscht hatten, als Strafe Gottes für den Bruch mit der Tradition. Ich finde ihn auch zu Weihnachten, wenn es nach Weihrauch riecht und Musikinstrumente der Kinder das Gloria in excelsis Deo hochschrauben, immer höher bis zur freskenbemalten Decke.

Aus diesem Grund trat ich irgendwann, als ich Kinder hatte, wieder in die Kirche ein; ich wollte mit ihnen an der Hand die Weihnachtsgeschichte hören, und zwar immer die, in der Quirinius Statthalter war in Syrien, keine alternative. Die Worte eines Pfarrers hingegen sind mir nicht so wichtig, woher glaubt ein fremder Mensch, irgendetwas über mich wissen. Aber die Schutzengel brauche ich, für Geburten und Tode, die tausche ich nicht ein gegen schlichte Worte in einer kahlen Kirche in der Konfession meines Mannes, über deren Unterschiede zu der meinen wir privat lachten, während seine Familie versuchte, Gefühle über mich zu stülpen wie ein Kostüm, das nicht passte.

Worte können falsch sein oder einfach nicht für einen bestimmt, wie Kleider, wie Liebhaber, wie in der Geschichte von Leila und Madschnun, die mir mein damaliger Freund Rusbeh erzählte, von einem Mann, der sich in eine Frau verliebte, die jemand anderer gar nicht schön fand, nur er. Ich hatte damals Angst, mein Vater würde ihn nicht akzeptieren wegen seiner Religion, und war nervös, als ich ihn ihm vorstellte, damals, vor zwanzig Jahren. Einem ungarischen Vater wurden Freunde vorgestellt, man hatte sie nicht einfach so, in einem Planschbecken taufen lassen konnte man sich jederzeit, aber vom Freund musste der Vater wissen.  

Als es so weit war, saß mein Vater im vierzig Jahre alten Cord-Fauteuil und rauchte. Er rauchte sonst fast nie mehr. Die beiden umkreisten einander wie zwei Hähne. Aber irgendwann sagte er, wenn ein Gott nicht das Gemeinsame vor das Trennende stelle, wozu sei er dann, dieser Gott, und ich war erstaunt, diese Worte hatte ich meinem Vater nicht zugetraut. Trotzdem war Rusbeh bald verschwunden, er kam mir abhanden wie Löwenzahnsamen, und das war auch gut so, denn würde man nur einen kennen, hätte man keinen Vergleich, hätte eine fest einbetonierte Meinung, wie Dinge zu sein haben, wie Männer sind – Unterschiede, Geschichten oder Sex –, obwohl man nur seine Seite des Ufers gesehen hat und niemals eine andere. Ein paarmal pustete ich auf den Löwenzahn und dann kam Mike und fischte mich aus dem Wasser.

Ich war an das Ostufer des Sees gefahren, wo man Sand unter den Zehen spürt, bevor der Schlamm kommt, und hatte mich auf den Rücken geworfen und war geschwommen. Ich liebe es immer noch zu schwimmen, die Augen zu schließen, bis ich nicht mehr weiß, wo das Wasser ist und wo das gleißende Blau hinter den Lidern, über oder unter mir, und ich nichts mehr höre außer dem rhythmischen Schlagen meiner Gliedmaßen und dem Klopfen des Herzschlags im Ohr. Ich liebe dieses Gefühl, wenn ich glaube, rückwärts zu fallen, doch man fällt nicht, das Wasser trägt einen, schaukelt einen sanft wie eine Mutter, ab und zu scheint ein Flugzeug aus den Wolken zu stürzen und verschwindet dann wie ein silbernes Insekt hinter dem Horizont. Mich stört es nicht, dass die Haare nass werden, ich will eins werden mit dem Wasser, vom Denken befreit, in der archaischen Lust der bloßen Existenz aufgehen.

Nur übersah ich den Pfeiler einer Mole.

Kurz versank ich im Dunklen. Im ersten Moment dachte ich, jemand habe mir absichtlich auf den Kopf geschlagen und tauchte voller Zorn auf, um denjenigen zu packen. Dann sah ich den Mann auf dem Steg.

„Auweia!“, rief er. „Alles in Ordnung?“

Ich stand auf. Das Kurioseste an diesem See, Österreichs seltsamem Gast, wie Werfel ihn beschrieben hat, ist, dass er einem nur bis zu den Hüften reicht, sobald man aufsteht. Und ich selbst sah vermutlich ebenso seltsam aus, die Haare vom Schlamm in alle Richtungen stehend, in dem in der Wäsche leicht scheckig gewordenen Bikini.

Mit einer eleganten Bewegung sprang der Mann vom Steg, nicht achtend seiner Hosenbeine, die dabei nass wurden, und reichte mir die Hand.

„Alles in Ordnung?“, fragte er. „Ich bin übrigens Mike.“ Ich merkte, dass seine Augen von unterschiedlicher Farbe waren, je nach Hintergrund.

So hat alles begonnen und so ging es weiter, immer reichte er mir seine Hand, als wir aus dem Wasser kamen wie die ersten Menschen und uns auf unsere Räder setzten, uns bei den schwarzen Rindern mit den gedrehten Hörnern ins Gras legten, nicht achtend der Disteln, die sich auf unser Gewand hefteten. Mein Vater war gestorben und ich war bloßes Fleisch ohne schützende Hülle, Synapsenbündel brachte Mike zur Ruhe, legte nicht die Decke über mich, sondern löschte mit kühlen Lippen die Teile, die brannten, leckte sie zur Ruhe. Und irgendwann legte ich meinen Kopf auf seine Brust und wusste, er würde mich tragen wie das Wasser, und wir sprachen von Häusern und Kindern, und den Traditionen, die uns egal waren. Wir tauften ein Kind katholisch und eines evangelisch, damit sie beide Hälften sahen und sich später frei bewegen konnten, ohne Grenzzaun, nach hüben oder drüben, wie sie es wollen würden. Mikes Eltern waren entsetzt.

Sie hatten eine lange Tradition als Bootsbauer, nur er nicht, und er würde diese auch nie bekommen, das hatte ich gespürt vom ersten Moment an, als ich seine Hände gesehen hatte, wie er einen verletzten Storch von der Straße hob, in seinen Fahrradkorb setzte und zum Storchenverein brachte, wo er gesundgepflegt würde. Mike war Künstler, er mochte die Boote, er liebte das Holz, doch er baute keine Zillen und setzte keine Radfahrer bei Illmitz über.

Mike zerlegte die Schiffe seines Vaters, bog die Bretter zu den Skiern einer springenden Freiheitsstatue, einer Arche Noah, zwei Liebenden. Sein Vater, Fritz, hasste das nutzlose Zeug im Bootshaus – es stand ihm im Weg herum –, das besser ins Museum of Modern Art in Miami gepasst hätte als nach Podersdorf.

„Boote.“ Mike schüttelte lächelnd den Kopf, als sei es absurd, vom Fährgeschäft leben zu wollen wie von Krokodilhäuten. Er war Künstler, die Denkweise seiner Familie war ihm fremd. Anstatt Touristen über den See zu fahren, hatte er in langen Nächten eine Wetterfähre gebaut. Ein Gefährt mit einem Balken, der von einer Seite auf die andere kippen konnte.

An den Enden des Balkens befanden sich zwei Holzschalen, in die Regenwasser tropfen konnte. Durch die Kippung wurde immer nur eine Schale mit Wasser gefüllt. War sie voll, bewegte sich das Gefährt auf einer Schiene einige Meter auf die andere Seite und hielt die andere Schale in die Luft. Mike klopfte auf sein Gefährt. „Dazu habe ich genau unsere Balken gebraucht. Sie sind resistenter gegen Holzrott als jedes andere Holz.“ Ein Passagier seiner Eltern war der Direktor des Museum of Contemporary Art in Miami. Danach hätte alles so leicht sein können. Der Regen war in die richtige Schale getropft.

„Aber Miami“, meinte Mikes Mutter. „Wie furchtbar heiß. Das könnt ihr unseren Enkelkindern nicht antun.“

„Kommt nicht in Frage“, sagte sein Vater und schnäuzte sich in sein Taschentuch. Die „Tradition“ war sein größter Stolz, ein zweigeschossiges Ausflugsschiff aus erbärmlichem Holz, doch die bunten Wimpel verdeckten die verwitterten Seitenränder, der Name wurde mit weißem Lack jährlich erneuert. Sie schaukelte unermüdlich über den See, in der erhabenen Haltung eines Dromedars in der Manege.

Fritz hatte das Schifffahrtsunternehmen gemeinsam mit seinem Zwillingsbruder Theobald übernommen. Der Name des Flaggschiffes, „Tradition“, hatte nie jemandem gefallen, vermutlich hatte Theobald ihn erfunden, nach mehreren Flaschen Blaufränkisch aus dem Heideboden, die er in seinem Weinkeller hortete, dem Basislager seiner Firma. Fritz wäre eigentlich lieber Geologe geworden, hätte die Fossilien im Leithagebirge erforscht, den Kalkstein, der einst ein Korallenriff gewesen war, doch ein Einziger schaffte den Betrieb nicht, und nachdem sie schon im Uterus aneinandergekettet gewesen waren, lebten sie die Tradition fort.

Mit ihrem Haus war das genauso gewesen. Sein Zwillingsbruder hatte sein Haus genau neben Theobalds gebaut. Fritz hatte dafür ein Fenster zumauern müssen, ein anderes wurde von der Dachschräge des anderen Hauses verdeckt. Und das, obwohl sie so viele Holzbauer in der Familie hatten; eigentlich eine Schande.

Dann kam unser drittes Kind, ungefähr zu der Zeit, als Mike die Einladung in das Museum of Contemporary Art in Miami erhielt. Ich sah, wie sein Gesicht aufleuchtete, als er den Brief öffnete, wie seine Augen blitzten; „Zsuzsanna, wir gehen nach Miami“, sagte er voll zitternder, ungläubiger Wärme in der Stimme, der Wärme, die man spürt, wenn ein Lebenstraum in Erfüllung geht.

„Meine Wetterfähre wurde genommen, ich bekomme ein Stipendium, wir können dort leben.“ Und da wir möglichst schnell reisen wollten, beschlossen wir, das dritte Kind vorerst mal gar nicht zu taufen, vielleicht dann im Atlantik.

Keine Taufe und kein Bootsbau, das ging zu weit für die Familie. Wie sich vor sechzehn Millionen Jahren der Alpen- und Karpatenbogen aufgefaltet haben mussten, erhob sich der Zorn der Schwiegermutter, bewirkte eine Stilllegung der Familienmitglieder gleich der tektonischen Absenkung der dazwischen liegenden Gebiete, und mit dem Rückzug der dem Urmeer gleichenden Erlaubnis für das Leben bildete sich ein Binnengewässer aus Zorn. Das Wasser warf sich gegen den Kalkstein, die E-Mails aus den Servern, bis eine Kaltzeit entstand gleich dem Würm, und in meinem Kopf einen Gedanken formte, so groß und mächtig wie der See.

Der Gegenstand der verantwortungslosen Eltern lag in seiner Kleinheit gut geschützt wie Moses im Weidenkörbchen, während rundherum Wörter an Gedankenwände prallten, der Ruf nach Entschuldigungen die Windsäcke füllte und zwischen den Wellen den harten Sandboden enthüllte. Zuerst die zwei verschiedenen Taufen, die waren schon schwer zu verdauen gewesen. Aber jetzt: keine Boote, zwei Konfessionen. Und das in e i n e r Familie. Wir mussten wahnsinnig geworden sein.

Das Schlimmste war: Mich verletzten nicht nur seine Eltern. Auch Mike wurde mir fremd wie ein Haus, in dem die Heizung zu lange kalt gewesen ist. Die Luft biss mir wie grobes Holz in meine Hand. Der Sommer wurde alt, bald würden nur noch Schatten unserer selbst an den Wänden tanzen, nur das Klappern der Fensterläden bewahrte uns vor dem Reden. Wir drifteten auseinander wie zwei Schiffe, die in verschiedene Richtungen fahren auf einem geteilten See. Dabei war das mit den Religionen im Grund wie bei der Wasserfähre.

„Etwas kommt von oben und jeder hält seine Schale auf und glaubt, es regne nur für ihn, er sei der Einzige, der das Gefährt in Bewegung bringe. Dabei regnet es für alle“, sagte Mike.

Nur in Miami würde es nicht für uns regnen. Ohne ein Wort hatte Fritz nämlich die Visitenkarte des Museumsdirektors aus der Tasche seines Sohnes gefischt, wie man einem kleinen Jungen sein Bonbon stiehlt – und ihn angerufen. In dreiundvierzig Jahren hatte er Mike so gut wie nie angerufen, den Direktor in Miami erreichte er sofort. Sein Sohn habe kein Interesse an dieser Museumssache, hatte Fritz gesagt. Die Schwiegerkinder seien ein bisschen verwirrt. Sorry for this austrian crazy things.

Mikes Augen wechseln von Grün zu Grau, wenn er das erzählt. Und deswegen stehe ich jetzt hier mit dem dritten Kind in der einen und der Säge in der anderen Hand.

„So. Die Taufe hätten wir hiermit erledigt, würde ich mal sagen. Seine Füße sind schon in den See getaucht.“

Mein Mann sitzt an der Mole, an der wir uns kennengelernt haben, und streckt die Arme nach Alexander aus. „Gib ihn mal her“, sagt er. „Ich habe das Fläschchen warm. Hast du die Säge?“

Ich ziehe den Griff ein wenig aus dem Wasser. Im linken Augenwinkel sehe ich die „Tradition“ auf dem Wasser schaukeln. Ein stattliches Ausflugsschiff, stromlinienförmig und sicher wie eine Boje, die nichts umwerfen kann.

„Wir müssen verrückt sein“, sage ich. „Bist du dir ganz, ganz sicher, dass wir das durchziehen und die Tradition versenken sollen? Was sagen wir, wer es war?“

Mikes Zähne leuchten im Abendlicht. „Die Ungarn“, sagt er. „In Fertörákos brennt jede Woche ein Hotel ab.“

Ich schüttle seufzend den Kopf. Die Sonne wird einmal noch rot, als wollte sie sich gegen das Verschwinden wehren. Unser Kind schmiegt sich an Mikes Brust und trinkt schmatzend seine Milch. Ich nehme die Säge, halte sie knapp unter der Wasseroberfläche an den Bug und ziehe sie von links nach rechts, immer wieder. Auch als Alexander schon längst in seinem Nestchen eingeschlafen ist und die Tradition langsam kippt – und neben den Sternen am Himmel der Podersdorfer Leuchtturm seinen wechselnden Lichtschein auf das graue Wasser wirft.

Wir haben nicht ewig Zeit. Morgen ziehen wir nach Miami.

aus:

Junge Literatur Burgenland

Anna Bauer, Lisa Bolyos, Kerstin Istvanits, Bernadette Németh
Band 7
ISBN: 978-3-99016-254-5

Hg.: edition lex liszt 12, 2023

 

Schönmenschen oder Heute, vor hundert und in hundert Jahren

Die Kälte dringt durch meine Haut. Früher liebte ich dieses Gefühl, als würden die Schneeflocken jede einzelne Pore meiner Haut küssen und wie Nadelstiche durch sie hindurchdringen, darunter die Muskeln zusammenziehen und sich eine Schicht tiefer in etwas Ersehntes verwandeln, das ich immer wieder suchte. Ich fühlte es, wenn meiner Mutter das Geld zum Heizen ausging und Eisblumen auf dem Fenster wuchsen. Oder wenn ich im November nackt in den See stieg. Die Kälte umschloss mich wie ein Handschuh, bei den Füßen beginnend, die Wirbelsäule entlang bis hinauf zum Brustkorb, wo sie mein Herz erreichte. Dann fühlte ich, wie es langsamer schlug, und zwischen dem normalen und dem tatsächlichen Schlag gewann ich eine Millisekunde Leben ohne Leben. Dieses Leben ohne Leben erzeugte gleißende Lust. Leben ohne Leben war Leben ohne Schmerz. Es war anders als mein Leben.

Jetzt ist mir nicht kalt, weil mich meine Beine in eisiges Wasser tragen. Ich habe keine Beine mehr. Bis auf die Manöver der Assistentin, die für mich abgestellt ist, meinen Rollstuhl in den Gerichtssaal zu schieben, bin ich die Frau, die nicht mehr weglaufen kann. Ich wünsche mir auch nichts mehr, ich weiß, wie der Prozess ausgehen wird. Lediglich um Stift und Papier habe ich gebeten, weil ich mich weigere zu sprechen.

Als ich ein Kind war, sprachen die Blumen zu mir, die Eichhörnchen und die geköpften Hühner, die im Schnee ihre blutigen Kreise zogen. Wie lange es dauert, bis der Körper stirbt, denke ich, denkt so ein Kopf da noch? Spürt er, dass er abgetrennt ist vom restlichen Körper? Oder fühlt es sich so an wie bei mir, wenn die Glasglocke heruntergelassen wird wie schwere Ketten und mich vom Rest des Lebens trennt. Jetzt bin ich kein Kind mehr. Ich bin sechzehn. Außen. Innen bin ich mindestens vierzig.

Ich bin eigentlich gar nicht hier. Ich liege im dichten, raschelnden Schilf, mein Rücken im kühlen Schlamm, über mir das Rascheln von Kiebitzen, Fasanen, Rohrdommeln. Der Himmel so blau, dass es in den Augen schmerzt. Ich bin zehn Jahre alt. Ich verstehe die Vögel, ich kenne ihre Rufe. Im warmen Licht der aufgehenden Sonne legen sich Nebelstreifen über die Weingärten und erquicken die Reben mit Feuchtigkeit. Das satte Grün der Rebblätter hat bereits die Farbe gewechselt, bei den Weißweinsorten zu Gelb, Orange und Hellbraun, die des Blaufränkischen heben sich mit einem leuchtenden Rotton von den anderen ab und ziehen blutrote Streifen durch die Weinberge bei Hegykö. Ich bin mehrere Kilometer durch das Schilf geradelt und liege dort, wo es bereits feucht ist vom See. Eine schwarze Wolke von Staren fliegt über mich hinweg. Zu Tausenden lassen sie sich in den Weingärten nieder, die binnen Minuten kahlgefressen sind. Beim Versuch, sich auf die Trauben zu setzen, um bequem zu naschen, treten die Stare die reifen Beeren mit ihren Krallen herunter und bringen die Winzer um die Arbeit eines ganzen Jahres. Doch ich verstehe sie. Sie können Tierstimmen nachahmen, den Ruf eines Mäusebussards etwa, aber auch einen Kiebitz oder eine Wachtel, manchmal sogar die Laute der Hunde, die sie in den Weinbergen jagen, schreiende Babys und angeblich sogar Klaviersonaten. Ich warte immer darauf, dass sie die Schreckschusspistolen nachahmen, mit denen die Bauern sie zu vertreiben versuchen, sie, die sich nur instinktiv das Überleben sichern.

So wie ich eines der Mädchen aus dem Fernsehen nachahmen wollte, als das Ehepaar aus Oslo an der Gartentür läutete. Zumindest hatte ich es versucht. Schauspielerinnen lächelten meistens, nicht wahr? Mama hatte mich ihr etwas zerschlissenes schwarzes Kleid mit dem Spitzenkragen anziehen lassen, in dem ich älter wirkte. Die Osloer waren in einem großen schwarzen Auto vorgefahren, das mit seinen Reifen in unserer Dorfstraße hängenblieben war. Ich schämte mich für unseren Streckhof mit der runden Arkade vor der Tür, einem Kussbogen, wie mein Vater immer sagte, der dazu diente, dass die Hausfrau verstohlene Küsse ihrer Töchter vom Fenster des Ersten Zimmers aus beobachten konnte. Das Erste Zimmer wurde eigentlich nur für Hochzeiten und Aufbahrungen genutzt, dort hatte Mama für sie gedeckt, mit dem besten Tokajer Geschirr. Das war, bevor sie krank wurde. Und bevor Papa sich erschoss.

Die Frau, die aus dem Auto stieg, kam mir wie eine Schneekönigin vor, in ihrem weißen Pelzmantel, den sie in der engen Arkade schützend um sich zog, um ihn nicht an unserer Mauer zu beschmutzen. Der Mann, der sie begleitete, sah aus wie Santa Claus. Eileen – so hieß die Dame, glaube ich – zog sich vor unserer Haustür die Stiefel aus und schlüpfte in glitzernde Pumps, die sie aus ihrer Handtasche gezaubert hatte. In diesem Teil von Ungarn haben wir zwar wenig Schnee, aber im Winter pfeift der Ostwind so scharf, dass die Weinbauern um ihre Ernte fürchten.

Eileen nippte nur am hochstieligen Glas mit dem Diópálinka. Dabei verwendeten wir diese Gläser nicht einmal zu Weihnachten. Sie betrachtete mich mit ihren großen grünen Augen. She is very pretty, sagte sie, und Papa übersetzte es meiner Mutter.

Frag sie, welche Art von Film, sagte Mama, und ich ärgerte mich, schließlich wollte ich nicht, dass sie mir in letzter Minute im Weg stand, für einen Horrorfilm gebe ich mein Kind nicht her, sag ihr das, István.

Das Porzellangesicht der Frau namens Eileen blieb unbeweglich, nur Santa Claus zuckte kaum merklich mit den Mundwinkeln.

There will be cosmetic advertisements, everybody is searching for new faces, you know, L’Oreal and these things, sagte er und machte eine Geste des Haarewaschens, woraufhin sich Mama endlich niedersetzte und ihre krummen Finger über der Kittelschürze faltete.

Our daughter, a very good girl, sagte Papa, a big big value, but here … er machte eine Handbewegung nach draußen, wo sich gerade der alte Impi mit seinem altersschwachen Fahrrad über die Dorfstraße kämpfte. You know, the lake, not more – eine vage Handbewegung in Richtung des Schilfgürtels – und Eileen lächelte.

Everything will be much more better, sagte sie, trust me, we are the best agency in Europe for the girls. Fivethousand Euro first, half for you, half for your daughter.

Mama begann zu weinen. Mir fiel auf, dass ihr Zittern wieder einsetzte, das Zittern, das sie zu einer alten Frau machte, einem Weiblein, das in einem der unzähligen Zwetschkensommer auf dem Bänklein vor dem Haus saß und seine arthritischen Gelenke in jeden Sonnenstrahl streckte. Papas Blick glitt von der eleganten Dame zu seiner buckligen Frau, von mir zum Kruzifix an der Wand geglitten – wie der eines Fuchses in der Falle – und schließlich zum Wandschrank, in dem, wie ich wusste, dass das Gewehr hing.

Oké, hatte er geflüstert, mit einem kurzen „o“ und einem langen „é“. Es sollte das letzte Wort sein, das ich aus seinem Mund gehört habe.

Für wen ich all das aufschreibe? Für mein Kind. Das ich nie haben werde. Irgendjemand hat mich mit etwas angesteckt, vermutlich ganz am Anfang. Etwas, das die Männer gar nicht spüren, das aber die Frauen unfruchtbar macht. Irgendetwas mit Serovare D-K oder L1-L3, wie ich im Internet gesehen habe, als mich Kiki kurz an den Rechner ließ. Eine große rote Kugel sah ich da, mit vielen kleinen darin. Zum Arzt ließ mich Mike nicht gehen. Für Mike ist es praktisch, dass ich keine Kinder mehr kriegen kann. Ich bin praktisch. Für die Spezialsachen ohne Schutz. Schutz, Schutz, Schutz. Ein Privileg. Den Schutz haben immer die Männer. Für mich gibt es keinen.

Wir gehen zu einem Rechtsanwalt, sagte Kiki. Er ist im schönen Teil von Wien. Dort, wo das Schloss mit dem schönen Brunnen steht, wo sogar die Menschen schön sind. Dort gibt es einen Anwalt, der braune Locken hat und tolle Angebote, wenn man nicht zahlen kann, das schreiben die Menschen sogar auf seiner Homepage.

Ich war erst einmal in Wien gewesen, als ganz kleines Kind. Wir waren damals stundenlang mit dem Zug gefahren, durch graue Felder, die gespickt waren mit schwarzen Krähen, und schließlich in einen Bus umgestiegen, der uns auf den grellen Weihnachtsmarkt mit den Kussmündern in den Bäumen gespuckt hatte. Das große Gebäude hinter dem Weihnachtsbaum ist das Rathaus, hatte mein Papa gesagt, dort machen sie die Gesetze, besser als bei uns, und er hatte auf den Boden gespuckt, schau nur, wie glatt der Boden hier ist, bei uns gibt es nicht einmal eine anständige Straße, ab Fertörákos fühlst du dich wie in Kolumbien, und so ist Wien für mich geblieben, die Stadt der guten Gesetze.

Ohne Kikis Hilfe hätte ich mit dem Anwalt gar nicht reden können. Kiki hat mehr Erfahrung als ich. Kiki ist teuer. Ich bin preislos. Meinen Preis bestimmt Mike. Kiki wird oft von reichen Männern aus Wien gebucht, während bei mir ungeduschte Landarbeiter ihren Gürtel öffnen. Kiki hatte zu Mike gesagt, sie hätte einen Auftrag in Wien. Er sei Anwalt, drei Kinder, Arbeit bis spät in die Nacht, Entspannung in der Mittagspause, das Übliche. Er wolle allerdings zwei Frauen, für Spezielles. Vielleicht bliebe für mich auch etwas, für die Pflege meiner Mutter, die ich nach Papas Tod im Stich gelassen hatte. Ich wollte protestieren, doch Kiki machte die Augen kurz ganz weit auf und schickte mir das Zeichen. Wir reden später, hieß das.

Eigentlich dürfen wir nicht reden. Die Zimmer werden überwacht. Aber es gibt eine Toilette mit zwei Kabinen und einen Spalt an der Trennwand unten. Das ist so ziemlich der einzige Ort bei uns, der nicht überwacht wird, zumindest soweit ich weiß. Und wenn einmal ein paar Minuten Pause zwischen den Kunden ist, kann es vorkommen, dass Kiki und ich gleichzeitig dorthin gehen müssen. Kiki schob mir einen Zettel unten durch: Dieser Anwalt könnte dir helfen. Ich kenne ihn gut, er ist lieb und heißt Magnus. Er wird dir nichts tun. Du kannst ihm zeigen, was Mike dir angetan hat.

Ich dachte an meine Mutter, die in dem Häuschen mit dem lehmgestampften Boden am Südufer des Neusiedler Sees vor sich hin rottete.

Ihr fahrt nicht allein, sagte Mike. Ich fahre mit. Kiki sah mich an, Panik im Blick. Ich bin im gleichen Hotel. Damit ihr nicht abhaut. Ihr stellt diesen Anwalt zufrieden und das Geld bekomme ich. Schon gut, sagte Kiki, Kata macht Extraservice. In mir senkte sich die Glasglocke über die Dinge, von denen ich bereits wusste, dass ich sie dafür brauchen würde. Die lackglänzende Hose. Schmerzstillende Salbe, die in der offenen Schleimhautwunde aber nicht wirkte. Waschpulver für Blut. Sie lagen auf einem Haufen, in meinem Bewusstsein, wie ein paar Gegenstände in zufällig zusammengekehrtem Schnee, Gegenstände, die nichts mit mir, mit Kata, zu tun hatten. Und dann doch wieder.

Schnee lag vor dem Fenster, als wir in Mikes Porsche Cayenne nach Wien fuhren. Glitzernder, weißer, weicher Schnee, der alles bedeckt und Schmerzen löscht. Ich hatte das Bedürfnis, aus dem Auto zu springen, mich hineinzuwerfen. Ich wusste, was mich erwarten würde, wenn ich es wagen würde zu verschwinden.

Der Braungelockte empfing uns bei der Tür. Magnus Bergheim stand auf dem Messingschild. Blauer Anzug um Hühnerbrust, als müsse er ein schmales Rückgrat kaschieren. Sein Blick zwang meinen nieder, seine Stimme knarrte wie Impis Traktor, wenn er im Schlamm hängenblieb. Er schien Kiki zu kennen und schickte sie in die Küche. Eurropäisches Rrecht, sagte er oder so irgendetwas. Herrzlich Willkommen.

Er sank immer tiefer in seinen Bang & Olufsen-Sessel, während er mit mir sprach. Aus den Augenwinkeln gewahrte ich in einer Ecke einen Koffer. Den habe seine Frau für ihn gepackt, sagte er. Marta packe immer für ihn, er selbst habe für so profane Dinge keine Zeit, arbeite täglich bis spätabends für Recht und Gerechtigkeit. Er gebe immer nur zum Schluss die wichtigsten Dinge für seine Geschäftsreisen dazu, wie ein Päckchen von Cartier oder seine zweite Kreditkarte beispielsweise. Ich war mir nicht sicher, ob er Spaß machte. Ich wusste gar nicht genau, was Cartier ist. Um ihn nicht zu verärgern, bemühte ich mich aber, ihm zuzuhören, die Essenz seiner Worte zu erfassen. Offensichtlich erzählte er sehr gern.

Seine Kiki habe ihm gesagt, ich bräuchte Hilfe, sagte er mit beschwörender Stimme. Ich solle mal zeigen, warum.

Ich zog meinen Pullover aus. Ich musste ihn ja ausziehen. In seinen Augen erschien etwas Undefinierbares. Ich zeigte ihm die Male. Einmal, zweimal, dreimal, oftmal. Fünftausend, sagte ich, verlangt Mike jetzt von mir. Und ich habe nichts. Er bekommt ja ohnehin das meiste. Der Rest ist für meine Mutter. Ich kann es nicht einarbeiten.

Sein Blick war empört. Ich fühlte mich verteidigt. Er war ein guter Mann. Schnell zog ich den Pullover wieder an. Das ist unglaublich, knarrte er. Ich werde Ihnen zu Ihrem Recht verhelfen. Jetzt bei diesen ganzen Lockdowns ist es für Ihre Branche ohnehin sehr schwierig.

Ich zögerte. Aber ich kann nicht zahlen, sagte ich.

Sein Kugelschreiber blieb in der Luft, schwebend, wie der Zeiger einer stehengebliebenen Uhr. Ich fühlte mich klein unter diesem Punkt, der mein Urteil besiegelte, als säße ich nackt in einer Waagschale, zusammengekrümmt, die Hände über dem Kopf. In dem einzigen Museum, das ich in Wien besucht hatte, hatte ich das gesehen, so ein altägyptisches Totengericht. Auf eine Seite kamen die guten Taten, auf die andere die bösen, der Richter entschied.

Und diese … Male, sagte Magnus, die hat Ihnen ganz sicher dieser Zuhälter zugefügt und nicht Sie selbst, es gibt ja Frauen, die alles Mögliche an Schmerzen mögen, und ich nickte. Wenn ich etwas in meinem Leben nie vergessen werde, dann die Geschwindigkeit, mit der Mike das Bügeleisen in der Hand gehabt und die drei Schritte auf mich zu gemacht hatte. Damit du gar nicht daran denkst, abzuhauen, Kata, hatte er gezischt. Ich erinnere mich, dass es verbrannt gerochen hatte, nach verbranntem Haar.

Wenn du auch nur auf die Idee kommst, hatte Mike gesagt, meinen Kopf fest in seiner Umklammerung, dann gehe ich mit dem Bügeleisen zu deiner Mutter. Hast du mich verstanden?

Es war dieser Geruch nach verbrannten Haaren, von dem ich gehofft hatte, ich könnte ihn im Schnee vergessen.

In Magnus’ Kopf schienen zwei Stimmen miteinander zu ringen. Ich spürte das, für mich erzeugen Gedanken manchmal sichtbare Schwingungen. Das hilft mir, rechtzeitig die Glocke zu senken.

Möchten Sie uns nach Oslo begleiten, fragte der Anwalt. Und als ich langsam den Kopf hob, fügte er hinzu: Also, genauer gesagt, zu einem Skiort in der Nähe. Wir haben dort nächste Woche ein Anwaltstreffen. Für meine Frau.

Frau? Ich hob den Kopf, erleichtert, dass er seine Frau erwähnte. Also, so sage ich das zumindest meiner Frau, sagte er. Sein mitfühlender Blick war etwas Glitzerndem gewichen, er erinnerte mich an einen Leoparden. Damit sie mir den Koffer packt. Er lachte jetzt zum ersten Mal. Ein Lachen, das mich frieren ließ. Du könntest mitkommen, sagte er. Ich habe fünftausend. Ich lade dich zum Skifahren ein. Bist du schon einmal Ski gefahren? Als Ungarin vielleicht nicht … und nachher Party in der Hütte und im Hotel mit uns. Aber alles inklusive. Hörst du, alles. Sowohl für dich als auch für Julian und mich. Sein Blick war streng, er schien mich am Sessel festzukleben.

Ich überlegte fieberhaft. Fünftausend, wofür genau? Als Begleitung zum Skifahren?

Klassischer Edel-Escort kostet mich mindestens sechs, sagte er jetzt.

Die Ketten rasselten herunter. Ich war geschützt. Doppelter Kettenvorhang, Glaskugel. Was immer ich hörte und fühlte, es war gedämpft. Ich war eigentlich gar nicht hier.

Das von Cartier sei für mich, sagte er. Er habe einen goldenen Mond gefunden, in dem Schaufenster in Hietzing. An diesem habe er nicht vorbeigehen können. Er möge Frauen, die beweglich seien wie der Mond, die vor allem auch seinen Kollegen Julian mochten, mit dem er schon in die Schule gegangen sei. Sie hätten gemeinsam die Kanzlei gegründet, davor gemeinsam studiert, davor gemeinsam für Europa und die Junge Partei gearbeitet, davor gemeinsam das Bundesheer besucht und davor zum ersten Mal gemeinsam ein Laufhaus, was ihm aber jetzt nicht edel genug sei.

Zum allerersten Mal sei er schon früher dort gewesen. Sein Vater habe ihm zum sechzehnten Geburtstag einen Besuch in einem schmucklosen Industriegebäude in der Triester Straße geschenkt, wie in früheren Zeiten, wo es normal gewesen sei, dass Väter ihren Söhnen zeigten, wie man das so machte mit den Frauen, nicht wahr, sein Vater, Professor für Geschichte, wisse das.

Sein Vater und er hätten seitdem ein schweigendes Abkommen. Sie ließen nicht zu, dass der jeweils andere aufgedeckt würde. Nicht vor Magnus’ strenger Mutter, für die sein Vater seit den Kindern keinen Stoß mehr übrig habe, um sie zu ärgern, und die sich seitdem in ihre biologischen Forschungsarbeiten verkrieche und auf! keinen! Fall! in! der! Wohnung! von! Kindern! gestört werden wolle – und auch nicht vor Marta, Magnus’ Frau, die seinen Eltern ewig dankbar sein könne, dass sie für eine Hietzinger Maisonette mit Gartenzugang keinen Cent zur Miete beitragen müsse, er sei ja großzügig. In Hietzing miete man schließlich nicht, man erbe. Wenn Marta, die ihm ordentlich zusetze – die ewigen Forderungen, dazu kein Sex, er wisse schon gar nicht mehr, dass er verheiratet sei, aber eine Scheidung komme natürlich nicht in Frage, man halte an seinen Werten fest – jedenfalls, wenn sie sich eines Tages trennen wollen würde, wie die dumme Pute es nach der Geburt des ersten Kindes schon einmal vorgehabt habe – würde sie keine Wohnung in Wien haben, sie könnte dann höchstens nach Neapel zurückgehen.

Das sei eines der Dinge, auf die er stolz sei, sagte Magnus und drehte nachdenklich seinen Kugelschreiber in der Hand, dass er sich eine echte Italienerin genommen habe. Nicht nur, dass er fremde Länder schätze und bei allen politischen Diskussionen rund um diese elende Herumwanderei mit seiner Expertise in europäischem Recht punkte, Österreicherinnen seien mühsam, sie träfen dauernd ihre Eltern, dann gebe es diese mühsamen Treffen, bei denen man dicht an dicht um einen kleinen Tisch sitze, die Ellbogen des anderen schon in der eigenen Komfortzone, und dann schwinge diese fremde Familie stundenlang im Gleichklang ihrer jahrelangen Diskussionsthemen. Marta erledige das innerhalb der sechs Wochen im Sommer, die sie mit ihren Kindern zu Hause in Neapel verbringe, eine herrliche Zeit, eigentlich, auch wenn einige Naivlinge im Freundeskreis, untypisch für das Hietzinger Gymnasium, ihm Jahr für Jahr die Rolle des überforderten Strohwitwers abnähmen.

Ich besitze die Fähigkeit der Stare. In Ordnung, flüsterte ich. Ich könnte nach Oslo mitfahren. Mein Blick schweifte auf das Bücherregal hinter ihm, in dem ein gerahmtes Familienfoto stand. Er stehend hinter einer dunkelhaarigen Frau auf einem Sessel, die Hand auf ihrer Schulter, und drei Kinder um sie drapiert, wie es sich gehörte. Ein Kind sah nach einem Mädchen aus, mir fallen Alterseinschätzungen schwer, aber sie war bestimmt schon Schülerin, wenige Jahre jünger als ich. Ob er ihr schon einmal gesagt hatte, dass sie nicht zu fremden Männern in ein Auto steigen, nicht allein zu einer Party in einer fremden Wohnung mitgehen solle? Sie, Kata, schätzte er bestimmt als volljährig, offenbar kam er gar nicht auf die Idee, sie nach ihrem Alter zu fragen. Er tat ja nur sich selbst etwas Gutes und schadete seiner Familie nicht. Sie würde es nie erfahren, es betraf sie nicht im mindesten, für ihn war es nur ein kleiner Fick, gut bezahlt, ein fairer Deal.

Er zahlte mir Geld, damit ich ihn zahlen konnte, damit er meinen Zuhälter davon abhielt, mir das Bügeleisen auf die Haut zu drücken, wenn ich nicht gehorchte. Dabei hatte ich ihn aufgesucht, um mir zu helfen, er war meine letzte Chance. Und auf einmal wusste ich, was mehr brannte als fremder Schweiß im offenen Fleisch, mehr als alle Wunden dieser Welt: Es war der Verrat!

Kiki hatte um Champagner gebeten, um viel Champagner für die Kleine, damit hatte sie mich gemeint, und gesagt, die Anwälte würden ihr selten einen Wunsch abschlagen, weil sie im Gegenzug so schön eng sei. Von mir würden sie überhaupt berauscht sein, es würde nicht schwer werden, mit zwei besoffenen Endvierzigern fertig zu werden, und dank des Alkohols würde es schnell gehen. Ich solle eine Corsage tragen, die meine Brandmale bedecke, nichts solle dazu führen, dass die beiden keinen hochbekämen, denn dann würde unser Plan scheitern.

Ich kann mich nicht mehr genau erinnern, wie wir nach Oslo kamen und in das Hotelzimmer, ich weiß nur noch, dass ich gefaltet vor ihnen lag, wie sie es bestellt hatten, meine Absätze ebenso wie meine Körperöffnungen in ihre Richtung zeigend, und dass ich hoffte, Kiki würde schnell machen, wenn ich in dieser Position lange bliebe, würde ich nachher nicht mehr laufen können.

Wirst du den Film Marta schicken, flehte ich Kiki an, ich wünsche es mir mehr als alles andere, damit es seine Familie sieht, die er angeblich so hochhält, und am besten auch seine Kinder. Alle sollen es sehen, es ist kein schneller Fick, der nur ihn betrifft, es betrifft seine Frau, seine Kinder, mich, meine Familie, meinen Partner und meine Kinder, die ich nie werde haben können, meine Eltern, meinen Zuhälter, dessen Frau und Kinder und alle, denen dieser das Messer an die Kehle hält, alle Familien, deren Kinder gekauft werden, Kinder, die so jung sind wie die der Freier.

Kiki nickte, selbstverständlich würde sie das, und dann ging alles ganz schnell, der vertraute reißende Schmerz, zwei grölende Männer auf mir, die Champagnergläser ganz nahe vor meinen Händen, die mich in der hockenden Position am Boden abstützten. Handlungsfähige Hände, denn die Schnur, mit der ich wie ein Paket eingeschnürt war, war elastisch, ich wartete auf das kehlige Geräusch des Mannes, der in mir onanierte, bäumte mich auf, packte die Flasche und schleuderte sie nach hinten auf seinen Kopf, so fest, dass sie zerbrach, Kiki machte dasselbe mit Julian. Schnell, schrie sie, jetzt ins Gesicht, fest, sonst traust du dich nachher nicht mehr, und ich filme und schicke, und mit geschlossenen Augen hieb ich die Flasche in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war, in das weiche Fleisch, aus dem kein Laut mehr drang.

Dann glitten wir durch die Balkontür. Es ging schneller als gedacht. Vom Balkon sprangen wir hinunter in den weißen, weichen Schnee, halbnackt, wie wir waren, blutig wie wir waren, das Blut lief mir zwischen den Pobacken hinunter, wir hinterließen rote Spuren wie angeschossene Rehe, es war keine Frage, dass wir wenige Chancen hatten, doch hatte ich die jemals gehabt? Der Schnee brannte unter unseren Füßen wie glühende Kohlen, wie ähnlich Hitze und Kälte in ihrem Schmerz doch waren, nur der Tod würde schöner sein können, der Tod, den wir mindestens so akribisch geplant hatten wie die Tat. Die Eisenbahnschienen waren nahe und hier in der Vorstadt auch nicht gesichert, der Zug fuhr hier um eine Kurve, der Lokführer würde auf keinen Fall bremsen können, wir würden in Sicherheit sein und dann auf ewig mit dem Schnee verschmelzen können – hatten wir gedacht. Der Tod, so schön, als würden Schneeflocken jede einzelne Pore meiner Haut küssen und wie Nadelstiche durch sie hindurchdringen. Ich wäre so gerne weggelaufen. Nie hätte ich gedacht, dass ich die Frau werden würde, die nicht weglaufen kann. Ich hätte so gerne meinen Kopf verloren, diesen Kopf voller schwerer Gedanken, doch nicht meine Beine.

Wir müssen in den Gerichtssaal, sagt die Frau, die für mich abgestellt ist.

aus:

Junge Literatur Burgenland

Anna Bauer, Lisa Bolyos, Kerstin Istvanits, Bernadette Németh
Band 7
ISBN: 978-3-99016-254-5

Hg.: edition lex liszt 12, 2023

 

 

Wettbewerbstext für den Jenö-Takács-Literaturpreis 2019:

(Vorgelesen von Beatrice Simonsen bei der Initiative „Kunst und Literatur“ mit Jenö-Takács-Konzert im Kulturzentrum im Rathaus Siegendorf)

Ildikós Klavier

Der Deckel sah aus wie der Flügel einer Wildgans, das Holz hatte sich zu einzelnen Brettern zerlegt, die in den wolkigen Himmel ragten. „Das gibt’s doch nicht“, dachte Bernhard, als er das Gestrüpp beiseiteschob. „Was macht denn das hier?“ Alles hätte er hier am Rande des Neusiedlersees erwartet – und vieles davon befand sich auch tatsächlich dort: schwarze Rinder mit gedrehten Hörnern, gefleckte Gänse, die sich im Schilf versteckten und bei Gefahr im Verzug mit lautem „Gah-gah“ davonstoben, oder die weißen Esel mit den blauen Augen auf der anderen Seite des Sees – aber sicherlich kein Klavier. Das passte hier definitiv nicht hin.

Der Konzertflügel stand im hohen Gras, umwuchert von Knopfbinsen und Feldmannstreu. Davor stand ein Sessel aus fast ebenso verwittertem Holz, der auf einen Balkon gepasst hätte. „Tina!“ rief er. „Schau mal…ein Klavier, ein Klavier!“Er hörte das helle Lachen seiner Freundin im Hintergrund. „Du klingst wie der Familienvater im Loriot-Sketch“, rief sie.

Tina näherte sich mit quietschenden Reifen, er spürte ihren Atem in seinem Nacken. Dass sie sich über ihn lustig machte, gefiel ihm gar nicht. Viel lieber hätte er sie beeindruckt, hätte sich ans Klavier gesetzt und etwas Schönes für sie gespielt, doch leider…er konnte nicht Klavierspielen. Seine Mutter hatte sich als junges Mädchen bei Czerny gelangweilt und ihn lieber Tennisspielen geschickt. Jetzt bedauerte er das.

Tina pfiff leise durch die Zähne. „Sieh mal einer an, das wäre doch eine perfekte Kulisse für einen Film“, sagte sie. „Auf der Filmakademie drehen sie gerade etwas über diesen burgenländischen Komponisten.  Wie gut, dass du das gefunden hast!“

Bernhard lächelte. Seine Freundin hatte ein bemerkenswertes Talent, ihn immer gut dastehen zu lassen, selbst wenn er kein Virtuose war. Er wäre liebend gern ein Künstler gewesen wie sie, die Filmstudentin – die noch dazu Filme über Künstler drehte. Jetzt sich an dieses Klavier setzen und ein Stück von diesem Jenö Takács spielen zu können, stellte er sich herrlich vor.

Immerhin, etwas konnte er schon tun. „Soll ich mal fragen, was es mit diesem Klavier hier für eine Bewandtnis hat?“ fragte er. „Vielleicht gleich nebenan im Restaurant auf der anderen Seite des Steges?“„Gute Idee“, sagte Tina. Sie schoben ihre Fahrräder näher an das weiß gekalkte, einstöckige Haus mit den edlen Sonnenschirmen davor.

„Entschuldigen Sie“, rief Bernhard über den Zaun. „Können Sie mir bitte weiterhelfen? Wieso steht dort ein Klavier?“

Die Kellnerin drehte sich um und musterte ihn kurz, bevor sie antworte. Kein typischer Fahrrradtourist, der in grellbuntem Lycra die Landschaft beglückte, Gott sei Dank. Eher ein ernsthafter Reporter, mit Kamera und Rucksack. Seine Begleiterin war bemerkenswert hübsch.

„Wo denn?“ fragte Julika, obwohl sie ganz genau wusste, welches Klavier der junge Mann meinte.

Normalerweise wäre es nicht so ungewöhnlich gewesen, dass in der Nähe eines berühmten Lokals ein Klavier stünde. Normalerweise wäre es aber auch abgedeckt und mit Rollen versehen gewesen, so dass man es bei den ortsüblichen Wettereinbrüchen rasch in Sicherheit bringen konnte. Keineswegs würde man einen wertvollen Flügel in einer Wildnis am Rande des Neusiedlersees parken.

„Na, das da hinten in der G‘stetten“, rief die junge Frau. „Am See“, korrigierte der Fotograf. „Das ist sicher Naturschutzgebiet. Trockenrasen, der Vegetation nach zu urteilen. Genau, dort im…ääh… Trockenrasengebiet.“

„Wollen Sie es kaufen?“ fragte Julika. „Dann hole ich den Chef“.

Die beiden sahen einander unschlüssig an. „Kaufen eher nicht“, sagte der Fotograf in einem Tonfall, als sei er plötzlich auf eine Idee gekommen. Er kam ein paar Schritte näher zum Zaun. „Meine Freundin dreht einen Film.“

„Schön“, sagte Julika. Nach den Radfahrern nervten sie an der Gegend am meisten die unzähligen Hobbyfotografen und -filmer, die sich im Glauben, besonders originell zu sein, in die Büsche schlugen und dann verwackelte Aufnahmen von schwarzen Stieren oder weißen Eseln auf Instagram stellten. Ein Klavier in der Pampa kam ihnen vermutlich wie gerufen.

„Sie können es jederzeit aufnehmen!“

Bernhard trat einen Schritt näher an sie heran. „Wir würden gerne auch die Geschichte dazu erfahren“, sagte er. „Ich finde, man sollte Kunst immer kombinieren. Das Bild und die Geschichte, die Geschichte und die Musik…Kunst ist am besten multilingual.“

„Ich hole den Chef“, seufzte Julika.

Der Chef des „Seeungeheuers“ war ein lustiger Mann mit Knollennase und runder Brille. Er hüstelte, dann begann er zu erzählen.

„Es war das Klavier von meiner Mutter“, sagte er. „Sie war eine Schülerin des Komponisten Jenö Takács gewesen. Eine der wenigen Privatschülerinnen. Und – wie man heute sagen würde – sein größter Fan.“ Er lächelte verschmitzt.

„Ach, wirklich?“ fragte Tina. „Ich mache gerade einen Film über ihn!“

Der Mann nickte. „Ja, er ist erst vor ein paar Jahren gestorben. Er ist hundertvier Jahre alt geworden, stellen Sie sich das vor! Er war in der ganzen Welt zu Hause, aber hier im Burgenland hat er sich am wohlsten gefühlt“, begann der Wirt zu erzählen, doch Tina hörte kaum zu. In ihrem Kopf schwebte längst ein Bild. Dies war ein Fluch und ein Segen für sie als Filmemacherin zugleich. Sobald sie eine Geschichte hörte, oder auch nur die Andeutung einer Geschichte, sah sie bereits die inneren Bilder klar vor sich.

Ein Klavier in einem bürgerlichen Haus in Ödenburg, die Mutter des „Seeungeheuers“, ein ungarisches Mädchen mit dickem schwarzem Haar und schwellenden Brüsten. In den vierziger Jahren war sie achtzehn Jahre alt und bekam aufgrund ihres außergewöhnlichen Talents den Komponisten Jenö Takács als Hauslehrer zur Seite gestellt.

Am liebsten mochte sie es, wenn er seine Humoreske spielte, was er oft tat, wenn er sie durch die Bartók-Passagen gebracht hatte. Sie nannte es niemals „gequält“, denn sie quälte sich nur alleine; wenn er mit ihr übte, schien ihr das Schwierige leicht, das Ernste lustig, ihre begrenzte Zukunft als höhere Tochter in einer Welt, die vor einem schrecklichen Krieg stand, weniger düster. Den Schlusston spielte immer sie; das hatte sich durch Zufall so ergeben, seit sie einmal voller Inbrunst die letzte Taste gedrückt und sich ihre Hände genau dort ein paar Sekunden lang berührt hatten. Er hatte es gemerkt, sein Finger war oben, dennoch hatte er ihn nicht verrückt, und sie auch nicht, und für diesen einen Moment war eine scheinbare elektrische Energie durch ihrer beider Hände geflossen, die sie verband, auch wenn sie nicht wussten, ob der jeweils andere sie auch spürte; Ildikó hatte sie gespürt und von diesem Moment an spielte sie bei der Humoreske immer den letzten Ton, sich wünschend, er würde wieder seine Hand auf ihre legen. Überhaupt ließ sie am liebsten ihn spielen, die Suite arabe oder die Berceuse orientale, die er in Reminiszenz an fremde Länder komponiert hatte, denn ihr selbst war das Spielen gar nicht so wichtig, sie mochte es am liebsten, ihm dabei zuzusehen.

Er war anders als die anderen Männer, die sich auf ihrer Tanzkarte eintragen durften. Er hatte die Welt gesehen und die Düfte des Orients, die Pflanzen des Dschungels,  die Farben des Meeres spiegelten sich in seinen Musikstücken. Ildikó wusste, dass sie es den gut gehenden Geschäften ihres Vaters verdankte, dass sie ihn als Privatlehrer haben durfte, dass er bei ihnen ein und aus ging und ihren Alltag, der auf ein langweiliges Hausfrauendasein abzielte, mit musizierten Bilder füllte.

Privat wusste sie von ihm nur, dass er schon einmal verheiratet gewesen war und es nun nicht mehr war, alles Nähere dazu hüllte sich für sie in dichten Nebel. Er hatte in Kairo gelebt, dann auf fernen Inseln und in Asien. Wieso sollte sich so ein Mann ausgerechnet für eine Kaufmannstochter aus Sopron interessieren? Seine Stücke begannen, hitzige Träume von ihr zu unterlegen. Sie konnte sich im Unterricht nicht mehr konzentrieren. Sie begann von seinen Händen zu träumen, Fingern die immer in Bewegung waren, nicht nur am Klavier, selbst wenn er neben ihr saß, trommelten sie sanft eine ähnliche Melodie in die Luft, und ihr Blick wechselte ständig zwischen den Noten und seinen Händen.

Er hatte eine orientalische Liebeslegende für Klavier komponiert, süß und dennoch bitter, wie dunkle Schokolade. Mit dieser kannte er sich aus, er hatte ihr natürlich erzählt, wie er Pianist geworden war. Sein Urgroßvater war Italiener gewesen, mit dem schönen Namen Speranza, was Hoffnung bedeutet, ein Beamter in der Siegendorfer Zuckerfabrik. Takács hatte schon als kleiner Bub viel Musik gehört, denn sein Vater hatte das seltene Talent, aus dem Stehgreif fast alle Instrumente spielen zu können.

Er erzählte ihr in blumigen Worten von seinen Reisen und mit einem kleinen Stich der Eifersucht dachte sie daran, wie viele Frauen er schon kennengelernt haben mochte, bestimmt waren es unzählige, und bestimmt dachte er beim Komponieren an die eine oder andere, ihr hingegen fiel ihr nichts ein, womit sie ihn hätte beeindrucken können, außer eines seiner Stücke zu lernen, was ihr so schwierig vorkam wie eine Reise auf einen anderen Planeten. Sein Werkverzeichnis war in diesen Jahren schon beachtlich, doch ihre Finger verhedderten sich auf den Tasten, es schien unmöglich, ihre Lieblingsstücke wie das Kirschblütenlied oder die Herde in der Puszta zu spielen. Am liebsten mochte sie Vierhändiges, da dabei die Gelegenheit bestand, dass sich ihre Hände zufällig berührten, was ihren Herzschlag in die Höhe trieb.

Sie begann, Gedichte auf kleinen Zetteln für ihn und über ihn zu schreiben, kleine Zettel, die sie zwischen Seiten ihrer Bücher versteckte und in denen sie darauf achtete, seinen Namen niemals zu erwähnen. Sie wusste nicht, ob er von ihren Gefühlen irgendetwas ahnte, sie gehörte zu jenen Menschen, die dazu neigen, die eigene Scham überzubewerten, hätte er außer Blicken und leichten, zufälligen Berührungen den geringsten Annäherungsversucht gewagt, wäre sie wohl vor Verlegenheit zerronnen.

„Sie hat immer Takács gespielt“, sagt der Chef des „Seeungeheuers“ nachdenklich. „Immer nur Takács. Irgendwann hat es meinem Vater gereicht und er hat das Klavier im Morgengrauen auf einen Ochsenkarren heben und es hierherbringen lassen. Bis es verrottet, hat er gesagt. Zumindest ist das die offizielle Version“, er schmunzelte. „Es gibt noch irgendeine andere mit einem Liebesgedicht in einem Notenheft, das meine Mutter angeblich geschrieben haben soll. Nachgewiesen werden konnte ihr das nie.“

„Guten Morgen! Träumst du mal wieder?“ Tina zuckte zusammen, als Bernhard sie sanft in die Seite stieß. „Wo warst du gerade mit deinen Gedanken? Schau – ich kann Takács!“

Mit Staunen sah sie sie, wie ihr Freund sich auf den alten Klavierhocker setzte, den Deckel hochhob und einen Ton anschlug. Und dann wieder. Und wieder.

Übers ganze Gesicht lächelnd drehte er sich zu ihr um. „Siehst du?“ fragte er triumphierend.

Voll Erstaunen blickte Tina von Bernhard, der immer noch den einen Ton wiederholt, zum Wirten und wieder zurück.

„Wieso spielst du nur einen Ton?“ fragte sie.

„Ach“, sagt der Wirt. „Das ist das Eintonstück, von dem ich Ihrem Freund gerade erzählt habe. Haben Sie gar nicht zugehört? Ein Kuriosum. Irgendein Musikwissenschaftler hat das kürzlich in einem Archiv ausgegraben. Es handelte sich gewissermaßen um einen Scherz. Takács soll einen Verleger gehabt haben, der unbedingt eines seiner Stücke spielen können wollte.

‚Was ich spielen kann, ist gut. Alles andere gehört weg‘, soll er gesagt haben.

„Ein Eintonstück?“ fragte Tina.

„Ja“, sagte der Wirt. „Man findet es nicht in den offiziellen Werkverzeichnissen. Es ist sozusagen ein Kuckucksei. Es befindet sich in einem Budapester Archiv“, sagte er mit einem Schmunzeln.

„Es ist nicht klar, ob es wirklich ein Stück ist oder nicht. Irgendjemand hat auf einer hingekritzelten Version die Notiz ‚Für Ildikó‘ gefunden. Vermutlich war das aber eine Fälschung. Bei der Handschrift war man sich nicht sicher. Beide sind tot – wir werden es nie erfahren.“

Er schmunzelte.

Bernhard spielte immer noch den einen Ton. „Schau, ich kann Takács!“ rief er mit kindlicher Freude.

Tina und der Wirt lächelten einander an. Dann hob der Chef des „Seeungeheuers“ theatralisch die Hände wie in dem berühmten Klavier-Sketch von Loriot und rief:

„Und noch ein Takács-Spieler – wie wunderbar – Mutter – wir danken dir!“